Warum deutsche Frauen ihre Kinderwünsche auf Eis legen
Anders als in Frankreich oder Skandinavien sind Großfamilien in Deutschland selten. Dabei wünschen sich gerade gut ausgebildete Frauen hierzulande häufig mindestens drei Kinder. Doch die Realität sieht anders aus. Das alarmiert Experten.
Die Italiener gelten traditionell als besonders kinderfreundlich. Und tatsächlich wünschen sich in dem Land die meisten jungen Menschen eine Familie mit mehreren Bambini. Auf Nachwuchs ganz zu verzichten, können sich nur zwei Prozent der Italienerinnen vorstellen. Doch der Traum vom Kindersegen wird immer seltener wahr. So hat Italien mittlerweile nach Deutschland europaweit den höchsten Anteil an Kinderlosen. Und zwischen der realisierten Kinderzahl und dem ursprünglichen Wunsch klafft ebenfalls eine beträchtliche Lücke. Ganz ähnlich ist die Situation auch in Spanien und Griechenland, wo sich die Frauen ebenfalls deutlich mehr Kinder wünschen, als sie am Ende tatsächlich bekommen.
Nicht nur in Südeuropa bleiben viele Kinderwünsche unerfüllt, wie eine breit angelegte internationale Vergleichsstudie der Österreichischen Akademie für Wissenschaften zeigt, die das Fachjournal „Population Research and Policy Review“ veröffentlichte. Allerdings ergab die Auswertung von Daten von 12.500 Frauen aus 19 europäischen Ländern sowie den USA, dass das sogenannte Fertility Gap je nach Land ganz unterschiedlich ausfällt. Am besten klappt der Studie zufolge die Familienplanung in Frankreich und in den USA. In diesen beiden Ländern ist die Differenz zwischen Kinderwunsch und tatsächlicher Kinderzahl minimal. Franzosen und Amerikaner wünschen sich relativ viele Kinder – und meistens bekommen sie die dann auch.
Deutschland unterscheidet sich von beiden Ländergruppen hingegen deutlich. So ist hierzulande zwar die Geburtenrate ähnlich niedrig wie in Südeuropa. Doch im Gegensatz zu Spanierinnen oder Italienerinnen wollen die deutschen Frauen meist von vornherein keine große Familie. Im Durchschnitt wünschen sich die Deutschen mit 1,83 Kindern den wenigsten Nachwuchs von allen 20 untersuchten Ländern. In den USA liegt die durchschnittlich angestrebte Kinderzahl bei 2,33 Kindern und in Norwegen gar bei 2,46 Sprösslingen. Und auch in fast allen anderen Staaten sind mehr als zwei Kinder erstrebenswert.
Um die Fertilitätslücke zu ermitteln, verglichen die Demografieforscherinnen Eva Beaujouan und Caroline Berghammer die in den 90er-Jahren von den damals jungen Frauen geäußerten Kinderwünsche mit der von dieser Kohorte später tatsächlich erreichten Geburtenrate, die in Deutschland bei 1,53 liegt. Damit klafft hierzulande zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine Fertilitätslücke von 0,3 Kindern. In Frankreich ist die Differenz mit 0,12 von allen untersuchten Ländern am geringsten, in Spanien mit 0,75 am größten.
In Südeuropa ist das Verschwinden der traditionellen Großfamilie noch ein relativ junges Phänomen. Die Vorstellung, dass zu einem erfüllten Leben viele Kinder gehören, existiert auch heute noch in den Köpfen vieler junger Leute. Schließlich sind sie selbst oft mit mehreren Geschwistern aufgewachsen. Doch hohe Jugendarbeitslosigkeit, hohe Wohnkosten und die in Südeuropa besonders schwierige Vereinbarkeit von Kind und Karriere durchkreuzen heutzutage häufig traditionelle Familienpläne.
In Deutschland gilt dagegen schon seit mehr als vier Jahrzehnten die Zwei-Kind-Familie als Norm. Die in der Bundesrepublik aufgewachsenen jungen Menschen sind mit diesem Standard-Familienmodell sozialisiert worden. Wer in seinem Umfeld kaum große Familien erlebt hat, kommt auch nur selten auf die Idee, später einen solchen Lebensentwurf zu wählen. Und so ist es kein Wunder, dass sich die Deutschen vergleichsweise selten drei oder noch mehr Kinder wünschen.
Diese Entwicklung ist – weit mehr noch als die Zunahme der Kinderlosigkeit – verantwortlich für die niedrige Geburtenrate in Deutschland. Während noch jede dritte im Jahr 1933 geborene Frau hierzulande mindestens drei Kinder bekam, hat sich dieser Anteil in den nachfolgenden Generationen halbiert. „Für einen deutlicheren Anstieg der Geburtenrate sind die kinderreichen Familien daher von entscheidender Bedeutung“, heißt es in einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB). Obwohl sie unter den hiesigen Familien eine Minderheit sind, sind die kinderreichen demografisch gesehen dennoch höchst bedeutsam.
Das wird klar, wenn man nicht auf die Frauen, sondern auf den Nachwuchs schaut. Denn immerhin jedes dritte Kind unter zehn Jahren lebt mit mindestens zwei Geschwistern im Haushalt. Und der Anteil großer Familien könnte auch hierzulande wieder steigen, wenn die Frauen ihre vorhandenen Kinderwünsche vollständig realisieren würden.
In Deutschland sind es vor allem die gut ausgebildeten Frauen, die weniger Kinder bekommen, als sie das ursprünglich vorhatten. Immerhin 35 Prozent der Akademikerinnen der Jahrgänge 1971 bis 1993 halten drei oder mehr Kinder für die ideale Zahl, stellten die BIB-Forscher fest. Dieser Anteil sei größer als bei den anderen Bildungsgruppen. Allerdings realisieren am Ende nur 14 Prozent der hochgebildeten Frauen diese Kinderzahl. Unter den Frauen mit geringer Bildung ist der Anteil der kinderreichen dagegen doppelt so hoch.
Dass die Geburtenlücke bei den Akademikerinnen besonders groß ist, alarmiert Experten. „Da immer mehr junge Menschen studieren, könnte diese Geburtenlücke in den kommenden Jahren immer größer werden“, warnen Demografieforscher des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in einer Studie. Ihr zufolge haben Frauen mit Uni-Abschluss eine um ein Viertel reduzierte Wahrscheinlichkeit, im Laufe ihres Lebens Mutter zu werden.
Wie die Wissenschaftler herausfanden, ist es allerdings nicht so, dass diese Frauen häufiger als ihre Geschlechtsgenossinnen von vornherein gar keinen Nachwuchs wollen. Es sei vielmehr das Studium selbst, das die Realisierung der Kinderwünsche negativ beeinflusse. Und so bleiben am Ende rund 26 der hiesigen Akademikerinnen kinderlos, während diese Quote bei Frauen ohne Hochschulabschluss nur bei 17 Prozent liegt.
Wer studiert, steigt in der Regel erst recht spät ins Berufsleben ein. So wird die Familiengründung aufgeschoben. Und weil die meisten Uni-Absolventinnen zunächst einmal Berufserfahrungen sammeln wollen, geht weitere Zeit ins Land. Daher liegt das Durchschnittsalter der Akademikerinnen bei der ersten Geburt laut RWI-Studie bei 30 Jahren, während Frauen ohne Hochschulausbildung schon vier Jahre früher ins Familienleben starten.
Weil Akademikerinnen oft erst relativ spät ihr erstes Kind bekommen, ist bei ihnen das Zeitfenster für weitere Geburten entsprechend klein. „Gerade wer eine Familie mit drei Kindern anstrebt, sollte früh genug beginnen – um halbwegs gute Chancen auf die Realisierung dieses Wunsches zu haben, nicht später als mit 31 Jahren“, sagt BIB-Forscher Martin Bujard. Seit Jahren verschiebe sich hierzulande das Durchschnittsalter der ersten Geburt immer weiter nach hinten.
„Wenn wir diesen Trend stoppen, könnte der Anteil kinderreicher Familien wieder ansteigen und damit auch die Geburtenrate nach oben ziehen“, sagt der Bevölkerungsexperte. Es sei dringend nötig, die Gesellschaft darüber aufzuklären, dass Frauen ihre Kinderwünsche nicht so lange aufschieben sollten, weil ansonsten die von ihnen angestrebte Kinderzahl immer schwerer zu realisieren sei.
Doch es gibt weitere Faktoren, die dazu führen, dass ein Großteil der Paare spätestens nach dem zweiten Kind aufhört. So zieht es junge Menschen heutzutage immer häufiger in die großen Städte. Die dortigen Wohnungen sind in der Regel auf maximal vier Personen ausgerichtet. „Bei einem dritten Kind ist häufig ein Umzug nötig – und das bei einem extrem knappen Angebot an großen, aber bezahlbaren Wohnungen“, sagt Bujard.
Und auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist für Kinderreiche eine besondere Herausforderung. Zumal gerade gut ausgebildete Frauen auch dann nicht dauerhaft aus dem Berufsleben ausscheiden wollen, wenn sie mehr als zwei Kinder haben. Die Arbeitsbedingungen seien oft noch zu wenig flexibel, moniert der Familienforscher: „Politik und Wirtschaft müssen sich darauf einstellen, dass kinderreiche Akademikerinnen und ihre Partner in der Rushhour des Lebens mehr Luft kriegen müssen.“
Denn es braucht mehr positive Beispiele des Gelingens solcher Lebensentwürfe, damit das dritte Wunschkind auch in Deutschland wieder häufiger tatsächlich auch geboren wird.
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