Unerfüllter Kinderwunsch: Aufstieg des Andrologen
Ungewollte Kinderlosigkeit betrifft gerade in den Industrienationen einen zunehmenden Anteil der Bevölkerung. Bei betroffenen Paaren liegt in 30–40 Prozent die biologische Störung bei einem der Partner vor, in etwa 20 Prozent der Fälle bei beiden Partnern.
Seit 1978 mit Luise Brown das erste durch eine In-vitro-Fertilisation gezeugte Kind zur Welt gekommen ist und 1992 beim Menschen die erste erfolgreiche intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) angewendet wurde, steigen die Zahlen der künstlichen Befruchtung weltweit stetig an, auch in Deutschland. Allein im Jahr 2015 wurden hierzulande 64.831 IVF- und ICSI-Behandlungen durchgeführt (Deutsches IVF-Register). Die Kosten einer solchen Behandlung werden in Deutschland auf Antrag zum Teil durch die Krankenkassen übernommen. In der „Richtlinie zur künstlichen Befruchtung“ des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) waren bis zum Jahr 2017 Grenzwerte des Spermiogramms als Grundlage für die Genehmigung einer solchen Kostenübernahme festgelegt.
Leider führte diese Fokussierung auf einzelne Messwerte oft dazu, dass andere andrologische Parameter und damit auch potenzielle therapeutische Ansätze außer Acht gelassen wurden. In der nun seit Juni 2017 in Kraft getreten Novellierung dieser Richtlinie ist neben der Erstellung zweier Spermiogramme auch die Untersuchung des Mannes durch eine Ärztin oder einen Arzt mit der Zusatzbezeichnung „Andrologie“ erforderlich.
Als Gründe werden angegeben, dass von Beginn an eine enge Zusammenarbeit zwischen Gynäkologen beziehungsweise Reproduktionsmedizinern und Andrologen erfolgen sollte. Neben der Expertise bei der Beurteilung von Spermiogrammen durch Andrologen ist eine andrologische Untersuchung gefordert, insbesondere um Erkrankungen zu erkennen, bei denen Behandlungsmöglichkeiten der Infertilität bestehen. Auch die Bundesärztekammer hat in der seit Juni 2018 in Kraft getretenen „Richtlinie zur Entnahme und Übertragung von menschlichen Keimzellen im Rahmen der assistierten Reproduktion“ definiert, dass bei einer geplanten assistierten Reproduktion fachkundige Ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Andrologie“ in die Diagnostik und Therapie einbezogen werden sollen.
Zur Diagnostik gehören neben der Anamnese auch die körperliche Untersuchung, Spermiogramme und Hormonwerte, sowie ergänzend eine Sonographie der Skrotalorgane. Ergänzend sollten bei gegebener Indikation zyto- bzw. molekulargenetische Untersuchungen erfolgen.
Aber was genau macht nun neben dem nach wie vor obligaten Spermiogramm eine gute und vollständige andrologische Untersuchung im Vorfeld zur Indikationsstellung einer assistierten reproduktiven Therapie aus? Basis einer umfassenden klinischen Untersuchung ist immer eine gute Anamnese. Diese sollte neben der Eigenanamnese eine Paaranamnese, aber auch eine Sexualanamnese beinhalten. Bei der körperlichen Untersuchung sollte neben der Inspektion und Palpation des äußeren Genitale auch auf Zeichen einer Störung des stoffwechsels geachtet werden (Fettverteilung, Körperproportionen, BMI, Körperbehaarung, Brustform). Eine sonographische Beurteilung der intraskrotalen Organe, wie Hoden, Nebenhoden und Samenstrang, sollte in den meisten Fällen die körperliche Untersuchung komplettieren.
Auch die Beurteilung der endokrinen Steuerung sowie Funktion des Hodens ist ein elementarer Bestandteil für die Beurteilung von Fertilität und Therapieoptionen. So können die Hormone LH, FSH und oft schon die Ursache einer Funktionsstörung näher eingrenzen. In manchen Fällen ist gerade hier auch im Vorfeld einer ART (Assisted Reproductive Technology) eine therapeutische Intervention möglich, um die Fertilität des Patienten zu verbessern.
Der Mann mit unerfülltem Kinderwunsch ist also mehr als nur das Ergebnis seines Spermiogramms. Die detaillierte und umfangreiche Untersuchung des Mannes ist wesentlicher und mittlerweile vorgeschriebener Bestandteil einer modernen Kinderwunschbehandlung.
aus: Kongresszeitung zum 70. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU), 26.–29.9.2018, Dresden
Autor: Dr. Jann-Frederik Cremers
Quelle: