Diese Inderin wurde mit 71 zum ersten Mal Mutter
In vielen Dörfern Indiens glauben die Menschen, dass eine Frau ohne Kind nichts wert sei und Unglück bringt. Deshalb verhelfen Befruchtungskliniken, auch Älteren zu einem Baby. Wie Rajo Devi Lohan, die nach 54 Jahren Ehe endlich Tochter Naveen bekam.
Durch die Gassen ihrer Heimat geht Rajo Devi Lohan wieder mit erhobenem Kopf. Das Dorf Alewa liegt im Bundesstaat Haryana, im Nordosten Indiens, nahe der Grenze zu Pakistan. Ein paar Hundert Menschen leben dort wie seit Generationen als Bauern oder Viehzüchter. Rajo läuft über enge Pfade aus festgetretener, rotbrauner Erde, die sich wie Arterien an den aneinandergereihten Häusern aus Lehm oder Zement ziehen. Ab und an macht sie klapprigen Traktoren Platz. Wasserbüffel schaukeln an ihr vorbei, das Fell glänzend schwarz vor Nässe. Fliegenschwärme und der Staub der abgeernteten Weizenfelder hängen wie kleine Gewitterwolken über dem Boden. Frauen tragen Eimer voller Kuhdung auf ihren Köpfen, mit dem sie, wenn er getrocknet ist, die Eisenöfen ihrer Küchen anfeuern. Ihre Gesichter sind verschleiert mit dünnen Stoffen in Kanariengelb oder Mintgrün. Dennoch merkt Rajo, dass sie den Blick senken, wenn sie ihnen begegnet.
Rajo genießt es. Es ist ihre späte Genugtuung. Keine zwei Seitenstraßen entfernt lehnt Balaram am windschiefen Türrahmen ihres Hauses, Rajos Ehemann, drahtig, mit geschorenem Kopf und in weißem Kurta Pyjama, den traditionellen Baumwollkleidern indischer Männer. Er hat das Haus eigenhändig gebaut, jahrzehntelang, Stein für Stein mithilfe seiner Familie. Ein zweigeschossiger Bau aus schweren Ziegeln. Die Ziegel halten die Hitze ab, die Räume sind wegen ihrer schmalen Fenster dunkel. Balaram zündet sich mit einem Streichholz eine Nelkenzigarette an, ein klappriger Ventilator schaufelt schwüle Luft in den Raum hinter ihm.
Durch die späte Geburt sind die Lohans jetzt im Dorf angesehen
„Rajo hat mich zu einem König gemacht“, sagt er mehr zu sich selbst. „Man muss nur meinen Namen sagen, und die Leute hier wissen, wer gemeint ist.“ Er nimmt einen tiefen Zug und nickt in die blaue Leere. Für die Lohans sind die Jahre des Spotts und der Verzweiflung vorüber. Sie haben ihre Anerkennung. Endlich.
Neun Jahre ist es her, dass Rajo ihre Tochter zur Welt brachte. Rajo war damals 71. Das Kind kam pünktlich, der Kaiserschnitt war unkompliziert, auch wenn das Baby etwas zu leicht war und einige Tage im Brutkasten verbringen musste. 1700 Gramm Mensch, dem die Lohans den Namen Naveen gaben. „Um sechs Uhr abends wurde sie geboren“, sagt Rajo. „Und um sieben Uhr war ich berühmt.“ In den Fernsehnachrichten des Landes, tags darauf in den Zeitungen, überall ähnliche Schlagzeilen: Rajo Devi Lohan – die älteste Mutter der Welt.
Die Geburt mag normal verlaufen sein. Doch die Zeugung war ein Wunder, wie Rajo selbst sagt. Sie war wie ihr Ehemann nie in einer Schule, kann kaum lesen noch schreiben, und wie die Behandlung genau ablief, weiß sie bis heute nicht. Sie erinnert sich an Tabletten, die sie nehmen musste, an eine Ärztin, die eine Spritze benutzte. Aber vor allem: dass sie nach mehreren Monaten Behandlung und 54 Jahren Ehe endlich schwanger war.
Rajo bekam ihr lang ersehntes Kind durch eine IVF-Behandlung
Die Behandlung, die Rajo als ihre Erlösung ansieht, ist die In-vitro-Fertilisation, kurz IVF. Dabei werden Eizellen per Hohlnadel mit dem Sperma des künftigen Vaters befruchtet und in die Gebärmutter injiziert. Rajo pflanzte man das Ei einer ihr unbekannten jungen Frau ein, die es zuvor an die Geburtsklinik verkauft hatte.
Über sieben Millionen Kinder wurden in den vergangenen 40 Jahren durch IVF gezeugt. Die Methode ist für viele kinderlose Paare die letzte Hoffnung. Weltweit. Auch in Alewa. Die Beine zu lang, die Arme etwas zu dünn, ein Kind mit schwarzem kurzem Haar und wachem Blick. Neun Jahre jung. Die Pubertät schleicht sich bereits an Naveen heran. Auf einem Regal in einem kleinen Zimmer neben Fernseher und staubverhangener „Barbie“-Puppe stehen drei Pokale, die Naveen als Klassenbeste ihrer Schule auszeichnen.
Natürlich merkt sie, dass ihre Eltern älter als die der anderen Kinder sind. Viel älter. Rajo ist heute 80, Balaram 79 Jahre alt, die meiste Zeit verbringen beide liegend auf den harten Holzpritschen im Schlafraum, in dem Naveen auch ihre Hausaufgaben macht. Mit ihr Badminton zu spielen, so wie sie es in der Schule gern macht, schlägt Naveen ihren Eltern gar nicht erst vor. Stattdessen hilft sie im Haushalt: kocht Tee, backt, putzt, noch bevor sie sich an ihre Schulbücher setzt.
Naveen hat kaum Freunde im Dorf – ihre Eltern sind ja schon pflegebedürftig
Rajo sagt, ihr Kind sei sehr verantwortungsbewusst. Mit guten Manieren. Dass Naveen im Dorf kaum Freunde hat oder einige Mitschüler sie in der Schule wegen ihrer alten Eltern verspottet haben, erzählt die Mutter nicht. Das erzählt Naveen, und Rajo hört stumm zu. Dann streichelt sie ihrer Tochter zärtlich über den Kopf.
Kind wird Naveen nur, wenn sie vor dem kleinen Fernseher der Familie lachend zu der Musik aus knallbunten Bollywoodfilmen tanzt. Auf dem Smartphone Spiele spielt. Oder in der Schule mit ihren Klassenkameraden zusammen ist. Als Naveen einmal fragte, warum beide älter als die anderen Eltern seien, antwortete ihre Mutter im Scherz: „Wir haben dich so spät bekommen, damit du uns nicht früher schon so nerven kannst.“ Dass Naveen das Kind einer IVF-Behandlung ist, soll geheim bleiben. Sie sei ein Wunder. Das soll als Erklärung reichen.
Vor allem Frauen über 50 nutzen in Indien die Chance, durch IVF schwanger zu werden
Die Wunder geschehen drei- bis viermal täglich außer sonntags, in Anurag Bishnois „Centre for Assisted Reproduction“ in Hisar, der Provinzstadt etwa 100 Kilometer von Alewa entfernt. Unter Klimaanlagen und Ventilatoren warten mehrere Dutzend Frauen und Männer, viele nicht älter als 30, einige jenseits der 50. Der hell geflieste Raum ähnelt der Wartehalle eines Busbahnhofs.
Bishnois Vater brachte die IVF-Technik 2001 nach Hisar. Zuvor konnte man nur in den Großstädten Indiens eine künstliche Befruchtung bekommen. Sohn Anurag, ein ausgebildeter Chirurg, übernahm die Klinik 2012. Mittlerweile wurden Tausende Kinder in seinem Labor gezeugt.
Anurag Bishnoi sagt, dass seine Klinik allen Paaren helfe, die ein Kind möchten, ganz unabhängig von ihrem Alter. Doch die Klinik-Homepage zeigt vor allem Fotos glücklicher älterer Eltern. Mehr als 100 Frauen über 50 hat Anurag Bishnoi bereits zu späten Müttern gemacht. Sie kommen aus den Dörfern der Umgebung, manchmal drei, vier Autostunden entfernt, weil sie von Rajo und ihrem Glück gehört haben. Wirklich bekannt wurde der Arzt erst nach der Behandlung von Rajo Devi Lohan. Sie war lange Zeit die älteste Mutter der Welt, bis Daljinder Kaur aus Amritsar im Bundesstaat Punjab 2016 mit 72 Jahren ein Baby bekam.
Das exakte Alter der Patientinnen von Dr. Bishnoi ist in dieser Region Indiens nicht immer genau festzustellen. Ein Geburtsregister samt Urkunde gibt es auf den Dörfern erst seit wenigen Jahrzehnten. Geburtstage wurden lange Zeit von den Behörden einfach nachträglich festgelegt. Auch Rajo kennt ihr genaues Alter nicht – sie zählt ihre Jahre ab dem Hochzeitstag mit Ehemann Balaram.
„Auch Soldaten wissen, dass sie im Einsatz für ihr Land sterben können. Die Frauen hier sind genauso mutig. Sie sind Soldatinnen für ihre Familie.“
Anfangs behandelte Anurag Bishnoi Frauen bis 45. Dann kamen 50-Jährige. 57, 62, 68. Schließlich gab er ein Alterslimit ganz auf. Allein medizinische Tests, der Blutdruck und ein EKG entscheiden, ob er eine ältere Frau behandelt. Er sagt: „Wir machen, was die Gesellschaft hier von uns verlangt.“ Und das Risiko einer späten Schwangerschaft sei für Frauen über 40 genauso groß wie bei Frauen über 60. „Sie wissen, dass sie älter und etwas schwächer sind. Aber auch Soldaten wissen, dass sie im Einsatz für ihr Land sterben können. Die Frauen hier sind genauso mutig. Sie sind Soldatinnen für ihre Familie.“
Auch in Indien gibt es heftige Debatten über späte Schwangerschaften. Doch in der Region um Hisar, sagt Bishnoi, auf den abgelegenen Dörfern mitten auf dem Land, muss eine Frau einfach ein Kind bekommen. „Bleibt eine Ehe kinderlos, gibt es nach drei, vier Jahren eine Scheidung. Oder der Mann nimmt sich eine Zweitfrau. Familien brauchen Nachwuchs, allein schon für die Erbschaft.“
Auf dem Land in Indien stehen kinderlose Frauen so sehr im Abseits, dass für viele Selbstmord als Erlösung erscheint. „Sie nannten mich ,bange‘“, sagt Rajo, das Hindi-Wort für „leerer Bauch“. „Andere Mütter in meinem Dorf hörten auf, mit mir zu reden, Schwangere mieden mich, niemand lud mich zu Hochzeiten ein. Alle glaubten, ich bringe Unglück. Weil ich kein Kind bekam.“
Kinder sind in Indien vor allem eine Absicherung im Alter
15 Jahre lang probierten Rajo und ihr Mann, Nachwuchs zu zeugen. Vergeblich. Rajo dachte, es sei ihre Schuld. Denn Balaram, so testete ein Urologe, sei völlig gesund. Jahr um Jahr driftete das Paar weiter auseinander, Balaram tauschte seine Worte gegen Alkohol; Rajo hoffte auf Astrologen und Heiler, von denen sie mit Wundermitteln zurückkehrte, die in Wahrheit nur ein Gemisch aus Kohle und Kuhdung waren. Die Lohans gaben auf.
Balaram nahm sich eine Zweitfrau, um Nachwuchs zu bekommen. Rajo war einverstanden. Doch auch diese Frau blieb kinderlos. Dann zeigte ihnen ein Nachbar einen Zeitungsausschnitt: Eine Frau habe mit 67 Jahren ein Kind zur Welt gebracht. In der Fertilisationsklinik von Anurag Bishnoi. Rajo sah endlich Hoffnung. Ein Kind zu bekommen sei nicht nur ihr Lebenstraum, wie sie sagt. Kinder sind, besonders auf dem Land in Indien, viel mehr: Absicherung im Alter, Arbeitskraft im Haus, und sie bestimmen den Ruf der Familie. Ohne Nachwuchs sinkt der eigene Name nach dem Tod ins Vergessen.
Balaram verpachtete nach dem medizinischen Erstgespräch seinen Traktor, lieh sich Geld von Verwandten, um die 2000 Dollar Behandlungskosten bezahlen zu können. Die Chancen auf Erfolg lägen 50 zu 50, sagte ihnen Dr. Bishnoi. Mehr als genug, meinten die Lohans.
Rajo nahm Hormone: Östrogen, hoch dosiert, damit ihre Gebärmutter bereit für die Einnistung der befruchteten Eizellen einer Spenderin wurde. Die Behandlung glückte. Rajo begann sich ab und an zu übergeben, bekam nur einen kleinen Bauch, dafür großen Hunger auf Süßes und Saures. „Ich spürte keine Schmerzen“, sagt sie. „Ich wurde nur jeden Tag glücklicher.“
Die Hormone sorgten dafür, dass sie Naveen drei Jahre die Brust geben konnte, Rajo erzählt es stolz. Selbst das Aufstehen in der Nacht, alle zwei Stunden, sei kein Problem gewesen. Jede Klage würde einem Scheitern gleichen.
Was ihnen zu Ruhm verhalf, wird für die Tochter zum Nachteil – Naveen hat keine Kindheit
Sie genießen die Anerkennung. Und die Sicherheit, dass Naveen ihren Namen weitertragen, sie einmal pflegen wird. Auch wenn die Behandlung sehr teuer für die einfachen Weizenbauern war, haben sie doch immer noch ein Stück Land und Erspartes, das sie später einmal an ihre Tochter vererben können.
Dass die Eizelle, die Rajo befruchtet eingesetzt wurde, eine Spenderzelle war – wie bei allen In-vitro-Befruchtungen in diesem hohen Alter – ist für die Lohans nebensächlich. Das indische Gesetz legt fest: Jedes Baby, das eine Frau gebärt, gilt als ihr eigenes. Im Haus der Lohans reibt Naveen ihrem 79-jährigen Vater den Rücken mit Schmerzsalbe ein und bringt ihrer 80-jährigen Mutter die schwarze Sonnenbrille, die sie seit einer Augenoperation tragen muss. In nur wenigen Jahren wird sie eine Waise sein, die Lebenserwartung in Indien beträgt im Durchschnitt 69 Jahre.
Noch ist der Tod der Eltern für sie unvorstellbar. Sie träumt davon, Polizistin zu werden, ein neues, großes Haus zu bauen, in das sie – natürlich – mit ihren Eltern ziehen will. Sie haben Geld zurückgelegt, damit Naveen für einige Zeit versorgt sein wird. Rajos Brüder werden Naveen bei sich aufnehmen, alles sei geregelt, sagt Rajo.
Zu sehen, wie ihre Tochter bei Volljährigkeit verheiratet wird, sei ihr letzter Traum. Dann wäre sie 90. „Wann wir gehen, liegt nicht in unserer Hand, alles ist bereits von Gott entschieden, was könnten wir dagegen tun?“ Die biologische Grenze haben Rajo Devi und Balaram Lohan mithilfe eines Arztes bereits überschritten. Den Tod aber werden sie nicht überlisten.
IVF im Alter – was ist in Deutschland erlaubt?
In Europa unterliegt die In-vitro-Fertilisation (IVF) strengen Regelungen. In Deutschland etwa können nur verheiratete Frauen zwischen 25 und 40 die Behandlung mit Unterstützung ihrer Krankenkassen in Anspruch nehmen, danach muss die Therapie aus eigener Tasche bezahlt werden. Endgültiger Schlusspunkt ist der Beginn der Menopause. Nicht so in Indien. Dort sind neben Leihmutterschaften auch Eizell-Spenden erlaubt, die IVF-Therapien bis ins hohe Alter erst ermöglichen. Doch die Behandlung ist nicht ohne Risiko, es kann zu Frühgeburten, Schwangerschaftsdiabetes und Thrombosen kommen. Schließlich belastet eine Schwangerschaft das Herz-Kreislauf-System, weil das Herz viel mehr Blut durch den Körper pumpen muss, wofür die Gefäße einer älteren Frau nicht ausgelegt sind. Unter Umständen entsteht keine optimale Verbindung zwischen dem Kreislauf der Mutter und dem des Embryos, der dann unterversorgt wird.
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