
Der Verzehr der Plazenta – ein neuer Trend?
Crystal Clark ist Psychiaterin an der Northwestern University in Chicago, wo sie ein klar umrissenes Gebiet erforscht: Clark hat sich auf Stimmungsstörungen bei Schwangeren und jungen Müttern spezialisiert. Ihre bisherigen Studien kreisten etwa darum, ob eine Schmerzblockade während der Geburt möglicherweise postpartale Depressionen verhindern kann. Doch dann überraschten einige Patientinnen Clark mit einer unerwarteten Frage: Die Schwangeren erkundigten sich, ob es in Ordnung sei, wenn sie ihre Plazenta nach der Geburt essen würden – oder ob Wechselwirkungen mit ihren Antidepressiva zu befürchten wären.
Die Psychiaterin staunte erst einmal nicht schlecht. Dann stellte sie ein Team aus Kolleginnen zusammen und begann, medizinische Datenbanken zu sichten, um herauszufinden, wie die Studienlage hinsichtlich dieser Frage aussieht. Die Antwort ist kurz: ziemlich mau. Der gesundheitliche Nutzen von Plazentaverzehr ist nie seriös untersucht worden, vielen Studien fehlen etwa Kontrollgruppen. Wer das Gewebe, das die Versorgung des Fötus im Uterus sicherstellt, verzehren möchte, muss sich mangels solider Forschungsarbeiten auf die Internetseiten von selbsternannten Experten stützen, die der „Plazentophagie“ nachsagen, dass sie Depressionen eindämmt, die Mutter-Kind-Bindung verbessert und das Immunsystem stärkt.
Bakterien und Blei
Clark und ihre Kolleginnen setzen diesen Lobreden in ihrer in den „Archives of Women’s Mental Health“ publizierten Übersichtsstudie einen berechtigten Verdacht entgegen. Sie vermuten, dass die Aufnahme der Plazenta, auch wenn sie bei anderen Säugetieren durchaus üblich ist, dem Menschen sogar schaden könnte. Schließlich wurden schon Bakterien, Blei und Quecksilber in Plazenten gefunden. Überraschend waren auch die Verwicklungen mancher Autoren der in den Datenbanken entdeckten Studien in das Plazenta-Geschäft. In einem Fall stellte sich heraus, dass der Hauptautor Gründer einer Firma ist, die frische Plazenta in leicht konsumierbare Kapseln presst.
Trotz allem scheint es aber auch ein bisschen so, als werde der Plazentophagie in der Debatte über perinatalen Hokuspokus – Japanischlernen im Mutterleib oder windelfreie Aufzucht – eine Art Zeugenrolle zugewiesen, die ihr, rein statistisch betrachtet, nicht zukommt. Zwar verbreiten einige Prominente den Trend, die Plazenta zu verzehren, aber für einen regelrechten neuen Nachgeburtshype finden sich wenig Belege. Reality-Soap-Star Kourtney Kardashian postete zwar Anfang des Jahres auf Instagram das Foto zweier durchsichtiger Kapseln, die ein dunkles Granulat enthielten; das sei ihre in Pillenform gebrachte Plazenta, schrieb sie dazu.
Ähnliche Bekenntnisse zum Mutterkuchen-Mahl finden sich aber kaum. Nur ein britischer „Guardian“-Journalist erlaubte sich vor einem Jahr den Scherz, einen Artikel darüber zu verfassen, wie er die Plazenta seiner Frau verspeiste: roh als Smoothie und gegart in einem Taco. Der Artikel ist eine Glosse, einen Trend bildet er nicht ab. Clark und ihr Team stört das wenig. Sie haben ein Projekt begonnen, um die Forschungslücken rund um den Plazentaverzehr zu füllen – ein Beispiel dafür, wie medizinische Forschung eben auch beginnen kann: mit extrem merkwürdigen Fragen von Patienten.
Quelle: http://www.faz.net/